EIN GEFÜHL VON FREIHEIT

OLESYA GOLOVNEVA UND MARIUSZ KŁUBCZUK ÜBER DIE PRODUKTION »NUR WER DIE SEHNSUCHT KENNT«

Die Sopranistin Olesya Golovneva und der Solorepetitor Mariusz Kłubczuk haben erstmals 2017 bei Verdis Otello an der Oper Frankfurt zusammengearbeitet. Schon damals hatten sie die Idee, einen gemeinsamen Liederabend zu entwickeln. Nun wirken die beiden in Christof Loys Inszenierung Nur wer die Sehnsucht kennt mit, in der sich 24 Tschaikowski-Lieder zu einer poetischen Narration verbinden.

 

Wie ist eure persönliche Verbindung zu Tschaikowskis Liedkompositionen und was fasziniert euch daran?

Olesya Golovneva: Kurz nachdem ich im Alter von 18 Jahren am St. Petersburger Konservatorium angenommen wurde, stieß ich in der Bibliothek auf Noten von Tschaikowskis Liedern. Ich war sofort verliebt! In seinen Romanzen ist – ähnlich wie in Tschechows oder Andrejews kleinen Geschichten – das ganze Universum der menschlichen Seele enthalten: Schmerz und Leid, aber auch Liebe, Leidenschaft und Sehnsucht. Ich gebe seit vielen Jahren Konzerte mit Tschaikowskis Liedern und entdecke sie bis heute immer wieder neu.

Mariusz Kłubczuk: Ich bewundere generell die russische Kultur, Sprache und Musik. Tschaikowskis Werke haben daher einen besonderen Platz in meinem Herzen. An seinen Romanzen mag ich ihre unmittelbare, ungefilterte Expressivität. So sehr ich beispielsweise auch Schuberts von Fragen und Zweifeln durchzogene Liedkompositionen schätze, so liegt mir – vielleicht aufgrund meiner slawischen Wurzeln – Tschaikowskis extrovertierte Art doch etwas näher.

Was waren besondere Herausforderungen und Erfahrungen in dieser Produktion?

Olesya Golovneva: Für mich war es ein Novum, Lieder in einem szenischen Kontext aufzuführen. Ich war überrascht, wie groß die emotionale Amplitude meiner Figur in der Inszenierung ist: Sie ist niedergeschlagen und euphorisch, tröstet und sucht Trost, schwebt wie ein Engel über der Erde und gerät in heftige Konflikte mit anderen Figuren … In 100 Minuten durchlebt sie nahezu alle Zustände, die man als Mensch erfahren kann. Durch diese Verdichtung bin ich als Darstellerin extrem gefordert!

Mariusz Kłubczuk: Tschaikowskis Romanzen sind für mich als Pianist sehr anspruchsvoll, da ich an jedes Lied anders herangehen muss. Man spürt, dass er bei der Komposition ein ganzes Orchester mitgedacht hat: Immer wieder lassen sich einzelne Instrumentengruppen wie Celli, Klarinetten oder Flöten aus der Klavierstimme heraushören. Diesen klanglichen Reichtum am Klavier zu transportieren, ist eine große Herausforderung. Abgesehen von zwei kurzen Momenten bin ich an dem Abend durchgehend auf der Bühne. Es verlangt ein hohes Maß an Konzentration, die Spannung über den gesamten Zeitraum und gerade auch in den Pausen zwischen den Liedern aufrechtzuerhalten. Aber erst dadurch fügen sich die einzelnen Stücke zu einem musikalischen Ganzen.  

 

Wie würdet ihr das Zusammenspiel zwischen den fünf Solist*innen und den beiden Liedbegleitern – neben Mariusz Kłubczuk spielt auch Nikolai Petersen – beschreiben?

Mariusz Kłubczuk: Die Bezeichnung »Liedbegleiter« mag ich eigentlich nicht. Ich verstehe mich eher als ein Partner, der dazu beiträgt, dass sich die Solist*innen während des Musizierens möglichst frei und sicher fühlen. Während ich spiele, tauche ich komplett in die Musik ein. Mein Fokus liegt ausschließlich auf den Sänger*innen: Ich versuche auf jede Nuance ihrer musikalischen Interpretation zu reagieren, was je nach Tagesform immer etwas anders ist. Gerade dieses permanente Neujustieren macht das Zusammenspiel für mich so spannend.

Olesya Golovneva: Ich denke auch, dass der Gedanke der Partnerschaft an diesem Abend zentral ist. Zunächst scheinen wir als Sänger*innen exponierter, aber für die musikalische Gestaltung sind Mariusz und Nikolai genauso wichtig. Gerade auch, weil in Tschaikowskis Liedern der Klavierstimme eine so große Bedeutung zukommt: Sie gibt mit den ersten Tönen vor, was in uns Sänger*innen passiert und führt in den Nachspielen musikalisch fort, was wir im Gesang ausdrücken. Ich empfinde das Verhältnis zu den Pianisten daher wie eine Ehe, in der beide Seiten gleichberechtigt sind.

Ihr habt euch auch über die musikalische Interpretation der Lieder mit Regisseur Christof Loy verständigt. Wie hat sich diese durch den szenischen Kontext verändert?

Mariusz Kłubczuk: Der enge und detaillierte Austausch über die musikalische Gestaltung war für mich wirklich interessant: Meine Vorstellungen von den Liedern korrelierten nicht immer mit denjenigen von Christof, der sich im Vorfeld ebenfalls sehr akribisch mit dem Notentext befasst hat. Wir haben viel diskutiert und es gab natürlich auch Konflikte, aber diese Auseinandersetzung war im Hinblick auf das Gesamtergebnis sehr fruchtbar. Wenn konkrete szenische und musikalische Ideen Hand in Hand gehen, ist dies für beide Seiten ein Gewinn. Bei dem Lied Warum op. 6/5 beispielsweise hat der Tenor (Andrea Carè) am Ende einen großen emotionalen Ausbruch und fragt seine Ex-Partnerin (verkörpert von Kelsey Lauritano), warum sie ihn verlassen hat. Christof bat mich, das eigentlich piano notierte Nachspiel fortissimo zu spielen. So konnte ich Andreas Energie aufnehmen und in der Klavierstimme kulminieren lassen.

Olesya Golovneva: In einem reinen Liederabend hätte ich einige Lieder sicherlich in einem anderen Tempo gesungen. Gerade die Tempowahl beeinflusst aber sehr stark den Charakter einer Szene. Und so kamen wir oftmals zu Lösungen, die sich für mich zunächst etwas ungewohnt anfühlten, in der jeweiligen Situation aber stimmig waren.

 

Die Inszenierung kreist um Themen wie Einsamkeit, Isolation und vergangenes Glück. Was hat es für euch bedeutet, diese Produktion in einer Zeit zu entwickeln, die von Vereinzelung und Kontaktbeschränkungen geprägt ist?

Olesya Golovneva: Die Auswirkungen der Pandemie bestimmen natürlich unseren Alltag, weshalb wir diese Gedanken sicher auch unbewusst in die Theaterarbeit mitgenommen haben. Gerade in diesen für die Kunst so schwierigen Zeiten finde ich es wichtig, Formate zu entwickeln, mit denen man sichtbar bleibt. Dafür ist dieser szenische Liederabend ein gutes Beispiel: Mit nur fünf Sänger*innen und zwei Pianisten entstand ein eigener Kosmos, der fast wie eine große Oper anmutet.

Mariusz Kłubczuk: Ich war nach all den Wochen des Lockdowns einfach nur hungrig. Die Möglichkeit, diesen Liederabend mit fünf großartigen Solist*innen zu gestalten, fühlte sich für mich wie ein Weihnachtsgeschenk an. Ich empfand die Arbeit an diesem Projekt als das größtmögliche Gefühl von Freiheit. Umso schöner, dass die Inszenierung aufgezeichnet wurde und somit trotz geschlossener Theater als Stream für das Publikum zugänglich ist!

Die Fragen stellte Maximilian Enderle, der die Produktion als Dramaturg begleitet hat. Der Stream »Nur wer die Sehnsucht kennt« ist noch bis zum 25. Juni online verfügbar.

18. April 2021

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