»Die Art und Weise, wie Wagner in seinen Opern mit dem Thema Sexualität umgeht, schockierte seine Zeitgenossen fast noch mehr als seine künstlerischen Innovationen. Erotische Begierden wurden in seiner Musik so plastisch erfahrbar wie niemals zuvor. Während sich der konservative Teil des Publikums pikiert davon abwandte, wurde Wagner in progressiveren Teilen der Gesellschaft für seinen Non-Konformismus gefeiert.
Vor allem Tannhäuser fand immer schon großen Zuspruch bei Menschen, die sich aufgrund ihrer eigenen Sexualität ausgegrenzt fühlen. Oscar Wilde schrieb einst, die Oper spreche ›von mir selbst … und von meinem eigenen Leben, oder den Leben der anderen, die man einst geliebt hat und die nun des Liebens müde geworden sind.‹ Zahlreiche queere Künstler*innen folgten seinem Beispiel und interpretierten das Werk als Metapher für ihr eigenes Leben. Mit Blick auf die Handlung ist dies durchaus nachvollziehbar: Ein Mann wird von der Gesellschaft geächtet, nachdem seine geheimen sexuellen Neigungen ans Licht kommen, und leidet anschließend unter der brutalen Zurückweisung durch die Kirche.
In unserer Lesart ist Tannhäuser ein deutscher Schriftsteller, der nach dem Zweiten Weltkrieg im Exil lebt und mit seinem unterdrückten sexuellen Begehren zu kämpfen hat. Es reizt mich sehr, die gespaltene Psyche eines Künstlers zu erforschen, der gezwungen ist, ein Doppelleben zu führen und schließlich von einer intoleranten Gemeinschaft zum Sündenbock stilisiert wird. Derzeit projizieren Menschen stärker als jemals zuvor ihre eigenen Ängste auf verletzliche Individuen oder Gruppen. Dass Worte und Ideen irgendwann bedrohlich werden, müssen nicht nur queere Personen immer wieder schmerzhaft erfahren. Und wenn man erst einmal von einem selbstgerechten Mob niedergemacht wurde – wo soll man da noch nach Erlösung suchen?«
Auszug aus dem Magazin März / April 2024.