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Interviews

REGISSEUR TILMANN KÖHLER ZU »LE VIN HERBÉ«

SEHNSUCHT NACH BERÜHRUNG UND LIEBE

In der Spielzeit 2020/21 sollte die Premiere von Frank Martins Version der Tristan-Sage stattfinden. Doch kurz vor der Premiere von Le vin herbé musste die Oper Frankfurt die Türen coronabedingt schließen. Nun kommt es im Juli 2023 doch endlich zur Frankfurter szenischen Erstaufführung. Im Gespräch mit Dramaturg Zsolt Horpácsy erzählt Regisseur Tilmann Köhler unter anderem, was ihn an diesem weltlichen Oratorium gereizt hat und welche besondere Stellung der Chor einnimmt.

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Tilmann Köhlers Inszenierung von »Le vin herbé« wird im Juli 2023 als Neueinstudierung nach coronabedingter Premierenabsage gezeigt. © Matthias Horn

Zsolt Horpácsy: Wie entwickelte sich dein Weg zu Le vin herbé als großartiges Werk fürs Musiktheater?

Tilmann Köhler: Am stärksten beschäftigte mich die Frage, warum Frank Martin sein Oratorium in dieser Form entwickelt hat. Basierend auf Joseph Bediérs Le roman de Tristan et Iseut, wählte sich Martin genau drei Kapitel – eingerahmt von den ersten und den letzten Sätzen des Romans – heraus und setzte sie nahezu Wort für Wort in seine Musik um. Dieser Roman hat ein großes dramatisches Potential in sich, was Martin in eine kondensierte Form überführte. Er entschied sich gegen einen Abriss der ganzen Geschichte, für ganz klare Kristallisationspunkte, existentielle Umbrüche der Figuren, die er scheinbar möglichst genau betrachten wollte. Die oratorische Form stellt das Erzählen der Geschichte in den Mittelpunkt. Aus ihr lösen sich die Figuren, die plötzlich für Momente extrem präsent sind. Der Reiz besteht in dem ganz simplen, direkten, einfachen Erzählen in Kontrast zu ansatzlos auftauchenden vollen Figuren.

Zsolt Horpácsy: Wie wichtig waren für dich die Vorgänge und Motive, die im vollständigen Roman deutlich beschrieben werden, in der Partitur aber nicht oder nur ansatzweise auftauchen?

Tilmann Köhler: Ich fand es total spannend diesen Roman zu lesen und darin die vollständige Geschichte der einzelnen Charaktere zu verfolgen. Eine Oper hat immer eine Vorgeschichte, die der Zuschauer nicht erzählt bekommt, die aber entscheidend für das Verständnis der Verhaltensweisen der Figuren ist. Die anderen Kapitel im Buch sind wichtig, um das Handeln der Figuren in ihrer Gänze nachzuvollziehen. Martin reduziert sich streng formal auf drei Kapitel, um diese in aller Genauigkeit auszuleuchten und um die ihm wichtigen Themen zu fokussieren. Sie basieren aber immer auf den von der gesamten Handlung geprägten Figuren.

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In Le vin herbé nimmt der Chor eine tragende Rolle ein. (alte Besetzung) © Barbara Aumüller

Zsolt Horpácsy: Die Besetzung besteht aus einem 24-köpfigen Chor und Solist*innen, die als Figuren der Oratorien-Handlung agieren. Wie verhalten sich diese drei Ebenen zueinander?

Tilmann Köhler: Es ist ein gemeinsames Erzählen. Die Solist*innen verkörpern jeweils einen Charakter der Handlung. Dazwischen schauen sie jedoch auch mit einem konzentrierten Blick durch ihre Figur auf die Geschichte und beziehen dazu Stellung. Sie betrachten sie aus dem Blickwinkel ihres Charakters, werden zum Anwalt ihrer Figur. Es geht hierbei nicht um ein Durchspielen der eigenen Position und Emotion, sondern um einen aus der Figur geprägten analytischen Blick auf die Geschichte. Manchmal auch um die Empathie oder Antipathie mit der man sich zu den geschilderten Ereignissen verhält.Der Chor berichtet uns die Geschichte aus der interessierten, mitfühlenden und zugleich distanzierten Perspektive des Erzählers. Die Sänger von Tristan und Iseut, die Blonde, verlassen dagegen nach dem Prolog die Erzählperspektive und agieren permanent aus ihren Rollen, spielen sie durch.

Es geht hierbei nicht um ein Durchspielen der eigenen Position und Emotion, sondern um einen aus der Figur geprägten analytischen Blick auf die Geschichte.
Tilmann Köhler, Inszenierung von Frank Martins Le vin herbé

Zsolt Horpácsy: Wie entwickelt sich das gemeinsames Schicksalsbewusstsein der beiden Liebenden?

Tilmann Köhler: Vom Unbewussten zum Bewussten. Tristan wie auch Iseut sind am Beginn der Geschichte Teil ihrer Gesellschaft und Konvention. Tristan handelt im Sinne König Marcs und Iseut im Sinne der eigenen Familie. Und plötzlich wird durch den Zaubertrank, der sie sich ineinander verlieben lässt, alles in Frage gestellt. Beide können nicht anders handeln und sind regelrecht gezwungen, die gesellschaftlich geprägten Grenzen zu überschreiten. Diesen Kampf – also was richtig und was falsch ist –, bestreiten die beiden Hauptfiguren durch das gesamte Stück hindurch.

Zsolt Horpácsy: Die 18 Szenen in Le vin herbé sind kurz: Innerhalb von wenigen Minuten entwickeln sich neue Situationen, die von verschiedenen Seiten betrachtet und kommentiert werden. Was für Konsequenzen hat die oft skizzenhafte, doch höchst konzentrierte Herangehensweise auf die szenische Darstellung der Geschichte und der Figuren?

Einerseits in seiner absoluten Schönheit in der unerwarteten plötzlich aufflammenden Liebe, genauso wie mit der unendlichen Grausamkeit und Ungerechtigkeit im unvermittelt bevorstehenden
Tilmann Köhler, Inszenierung von Frank Martins Le vin herbé

Tilmann Köhler: Sie eröffnet eigentlich eine große Ehrlichkeit, Direktheit und Schlichtheit. Eine reduzierte Form, die einen dazu zwingt, nach einer Essenz zu suchen. Nach der Möglichkeit des Erzählens, die bei den Zuhörerinnen und Betrachterinnen etwas auslösen kann, nach einem Kondensat. Wie beispielsweise ein Blick, eine gezielte Bewegung oder eine unerreichbare Nähe. Keine lang vorbereiteten Momente, sondern solche, die sehr schnell und unmittelbar entstehen. Die gesamte Geschichte konfrontiert die Zuhörer*innen mit der ganzen Uneinschätzbarkeit des Lebens. Einerseits in seiner absoluten Schönheit in der unerwarteten plötzlich aufflammenden Liebe, genauso wie mit der unendlichen Grausamkeit und Ungerechtigkeit im unvermittelt bevorstehenden Tod des geliebten Anderen. Der Liebestrank verändert von einer Minute auf die andere alles, genauso wie am Ende der bevorstehende Tod. Ein weltliches Oratorium, das als Medium dient, Lebensthemen zu bearbeiten: Solche wie die Fragen nach der Vergebung, das Ende des Lebens und das Wunder der Liebe. Oder auch ein Thema, das uns in der jetzigen Phase besonders betrifft: Die Sehnsucht nach Berührung und Nähe.

SZENENFOTOS Barbara Aumüller

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Veröffentlicht am

29.06.2023

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60311 Frankfurt am Main

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