TEXT VON MAXIMILIAN ENDERLE
»Es ist die Angst vor dem Tod, die Apotheose der Angst und das Überwinden der Angst durch Komik, durch Humor, durch Groteske.« Mit diesen Worten beschreibt György Ligeti den inhaltlichen Kern seiner Oper Le Grand Macabre. Die Konfrontation mit dem Tod zieht sich wie ein roter Faden durch Biografie und Werk des ungarischen Komponisten, der in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden wäre. Auf sein Leben zurückblickend, äußerte er kurz vor seinem Tod: »Eine Dimension meiner Musik trägt stets den Abdruck einer langen, im Schatten des Todes verbrachten Zeit.«
VOM REQIUEM ZUR »ANTI-ANTI-OPER«
Der Text der lateinischen Totenmesse übte seit jeher eine ungeheure Faszination auf Ligeti aus. Über 20 Jahre lang arbeitete er an seinem Requiem, das 1965 in Stockholm uraufgeführt wurde. Den zentralen Moment des Werkes bildet die Sequenz des Dies irae – der Tag des Jüngsten Gerichts. In nie gehörter Eindringlichkeit machte Ligeti darin die menschliche Todesangst hörbar und bewies zugleich einen untrüglichen Theaterinstinkt. Konsequenterweise erhielt er nach der Uraufführung von Göran Gentele, dem Intendanten der Königlichen Oper Stockholm, das Angebot für ein groß besetztes Musiktheaterwerk.
Der Komponist nahm dankend an und erarbeitete zunächst eine Adaption des Ödipus-Stoffes, die Gentele inszenieren sollte. Nachdem dieser jedoch im Jahr 1972 bei einem Autofall ums Leben kam, verwarf Ligeti seine Konzeption und begab sich auf die Suche nach einem neuen Sujet. Im Gegensatz zu Mauricio Kagel, der 1971 seine dadaistische »Anti-Oper« Staatstheater uraufgeführt hatte, bevorzugte Ligeti eine dramatische Handlung als Gerüst seines Werkes. Eine»Anti-Anti-Oper« schwebte ihm vor – im Grunde die Rückkehr zur Oper im traditionellen Sinne, allerdings in einem Klanggewand, das »gefährlich, bizarr, übertrieben und ganz verrückt« sein sollte.
Fündig wurde Ligeti schließlich bei Michel de Ghelderodes Farce La Balade du Grand Macabre, die in den 1930er Jahren unter dem Eindruck von Hitlers Aufstieg entstanden war. Die Vorlage des flämischen Dramatikers spitzte er gemeinsam mit seinem Librettisten Michael Meschke, damals Direktor des Stockholmer Marionettentheaters, sprachlich effektvoll zu: Schlagkräftige Dialoge treffen auf aberwitzige Silbenketten, kindische Abzählreime auf erotische Poesie, vulgäre Wortspiele auf verfremdete Bibelzitate.
Den Treibstoff der 1978 uraufgeführten und 1996 revidierten Oper liefert Ligetis Musik, eine »akustische Welt voller Ruinen« (István Balázs). Wie objets trouvés finden sich darin Reminiszenzen an Werke von Rameau, Mozart, Beethoven, Rossini und Offenbach. Strenge Formen, wie etwa eine Toccata im Stile Monteverdis, verbinden sich mit einer ausgefallenen Orchesterbesetzung – Autohupen, Türklingeln und Sirenen sind dabei ebenso vorgesehen wie ein überbordender Schlagzeugapparat. Und nicht zuletzt erhält jede der Figuren einen ganz eigenen gesanglichen Ausdruck, von lyrisch-sinnlich (Amanda und Amando) über drastisch-komisch (Piet vom Fass) bis hin zu vokalartistisch-überdreht (Chef der Gepopo).
Auszug aus dem Magazin November / Dezember 2023.