»Aida – das ist eine Untersuchung der Widerstandsfähigkeit der Liebe inmitten unvorstellbarer politischer Unruhen. Obwohl Radamès und Aida möglicherweise auch ohne den anderen Freiheit und Glück finden könnten, entscheiden sie sich für die gemeinsame Liebe, die im Fall der Oper nur mit ihrem gemeinsamen Tod einhergehen kann.
Mich interessieren vor allem die gesellschaftlichen Strukturen, die derart unmögliche Umstände für die Liebe schaffen. Radamès ist ein Militäroffizier mittleren Grades, dem plötzlich das Kommando über die gesamte ägyptische Offensive übertragen wird. Was wäre, wenn diese Ehre nicht auf Vorsehung oder Verdienst beruht, sondern auf purer Männerknappheit? Und ist nicht die Wandlung von Amneris’ Besessenheit in Psychopathie eine Folge des Aufwachsens in diesem System? Was wäre, wenn die alternden politischen Eliten einer zusammenbrechenden Autokratie in ihren Bunkern Champagner trinken, während in den Straßen über ihnen die Leichen ihrer eigenen Leute liegen?
Aida ist gerade heute von höchster Relevanz. Das brutale Festhalten an der Macht auf Kosten der Bevölkerung scheint nie aus der Mode zu kommen. Es bedarf keiner großen erzählerischen Verbiegung, um die Oper mit den Endstadien militärischer Autokratien in Verbindung zu bringen. Die letzten Tage im Führerbunker, der Terror des liberianischen Präsidenten Charles Taylor, die letzten Tage von Saddam Hussein und seinen sadistischen Söhnen mit ihren aufwändigen Bunker-Palästen, die schrullige Opulenz von Muammar al-Gaddafi bei einer gleichzeitigen Herrschaft von größter Brutalität und Unterdrückung, die Entdeckung der Meschyhirja-Residenz des ukrainischen Ex-Präsidenten Janukowitsch nach dessen Sturz 2014. Und natürlich denkt man auch an die immer schlimmeren Repressionen des Kremls gegen die eigene sowie die ukrainische Bevölkerung in den darauffolgenden Jahren – bis hin zum Krieg, der 2022 in der Ukraine begann.«
Auszug aus dem Magazin November / Dezember 2023.