Text von Maximilian Enderle
Reimann sah in Tintagiles’ Schicksal womöglich eine Verbindung zu seiner eigenen Biografie. Sein älterer Bruder Dietrich, dem die Oper L’invisible gewidmet ist, starb im Alter von 13 Jahren bei einem Bombenangriff auf Berlin. »Der Schatten des Todes ist deshalb seit meinem achten Lebensjahr an meiner Seite«, kommentierte Reimann rückblickend diese Erfahrung.
In seiner Partitur stellt der Komponist neben den Schattenseiten des Todes aber auch dessen Gegenkräfte dar. So werde die Musik »gerade dadurch lebendig, dass sie das Verhängnis des Todes aufhalten möchte«. Denselben Wunsch hegen im letzten Teil der Oper auch die Charaktere Ygraine, Aglovale und Bellangère: Obwohl bereits mehrere ihrer männlichen Familienmitglieder getötet wurden, versuchen sie Tintagiles vor seiner mörderisch-machthungrigen Großmutter zu beschützen. Ihre Bemühungen bleiben zwar vergebens, doch liegt gerade in ihrem Aufbegehren ein Moment der Hoffnung und Selbstbestimmung.
Aribert Reimann verfolgte nach der Berliner Uraufführung von L’invisible 2017 den Plan, eine weitere große Oper zu schreiben. Bis zuletzt arbeitete er an diesem Projekt, musste sich aber schließlich im Frühjahr 2024 einer tödlichen Krankheit geschlagen geben. Und so blieb seine »trilogie lyrique« nach Maurice Maeterlinck nicht nur eine sehr persönliche, sondern auch Reimanns letzte vollendete Oper.
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