Als ich 2016 mit den Proben für Lulu begann, war mein erstes Kind gerade 6 Monate alt. Was für ein starker Kontrast, zwischen der Mutterrolle und dem extremen Wesen Lulu hin- und herzuwechseln! Lulu ist eine Figur, die scheinbar keinen Nährboden in ihrem Körper hat, sich aber auf jeden Fall nach einer Elternfigur zu sehnen scheint: Tatsächlich ist der Mann, den sie wirklich liebt, jener Mann, der ihr selbst am ähnlichsten ist: Dr. Schön.
Ein faszinierender Aspekt an der Titelfigur ist auch, dass sie jeder in der Oper mit anderen Augen sieht, ihr einen anderen Namen gibt, sie unweigerlich begehrt, sie aber doch wohl nie so sieht, wie sie wirklich ist, sondern lediglich als Projektionsfläche eigener Wünsche. Ich finde, dass dies auch für das Publikum gilt. Jeder hat eine andere Meinung darüber, was Lulu sein sollte: eine Kokette, eine moralisch korrupte Männerfresserin, eine unschuldige junge Frau, die keine andere Wahl hat, als sich so zu verhalten, wie sie es tut … Für mich ist Lulu vielmehr eine Frage als eine Antwort. Sie strahlt ein enormes Freiheitsgefühl aus und bietet scheinbar endlose Möglichkeiten. Bergs Musik ist so komplex wie seine Titelfigur, unglaublich ausdrucksstark und dramatisch. In dieser Rolle lasse ich auf der Bühne alles raus und fühle mich erschöpft und kraftvoll zugleich – ganz wie die Naturgewalt, die Lulu selbst ist.«
Auszug aus dem Magazin November /Dezember 2024.