Dirigent Sesto Quatrini über Verdis und Rossinis »Otello«
Sesto Quatrini dirigiert Otello – und das gleich in zwei Versionen! Von Mai bis Juli 2024 kann man sowohl Rossinis als auch Verdis Vertonung der Otello-Geschichte an der Oper Frankfurt erleben. Am Pult steht jeweils Herr Quatrini, der in diesem Gastbeitrag darüber spricht, wo die Unterschiede liegen und was für ihn die größte Gemeinsamkeit darstellt.
Alles beginnt beim Text
Der erste große Unterschied liegt in den Libretti, die aus zwei verschiedenen literarischen Quellen stammen: Für Rossini wurde das Libretto von Francesco Maria Berio di Salsa von Othello, ou le More de Venise von Jean-François Ducis (1792) abgeleitet, während für Verdi das Libretto von Arrigo Boito direkt aus der gleichnamigen Tragödie (1603-1604) von Shakespeare stammt.
Das bedeutet, dass wir es mit unterschiedlichen Texten zu tun haben, dass die Entwicklung und der Rhythmus der Geschichte anders sind und vor allem, dass sich viele der Figuren unterscheiden: der Doge, Elmiro, Lucio und der Gondoliere existieren nicht in Verdis Otello, und dasselbe gilt für Cassio, Montano und Lodovico in Rossinis Otello. Die theatralische Bedeutung, die der Figur des Rodrigo/Roderigo beigemessen wird, ist völlig unterschiedlich: bei Verdi handelt es sich um eine sehr kleine Rolle, während sie bei Rossini eine zentrale Rolle ist – mit Arien, Duetten und Trios von großer Bedeutung und Schwierigkeit.
Rossini bleibt sich treu
Rossini komponierte Otello im Jahr 1816. Es war seine dritte Oper der neapolitanischen Periode und nach »Elisabetta regina d'Inghilterra« seine zweite ernste Oper für das Opernhaus von Neapel.
Gioachino Rossini, Fotografie von Étienne Carjat, 1865
Er war damals 24 Jahre alt, also noch sehr jung, und obwohl er bereits einige seiner Meisterwerke komponiert hatte, vor allem im Bereich der Komödie (Barbiere, Italiana, Turco, aber auch Tancredi), hatte er vor allem im Bereich der ernsten Oper noch einiges vor sich, bis er die volle Reife erreichte, die wir zum Beispiel in Ermione, La donna del lago, Semiramide, Moïse et Pharaon und Guillaume Tell sehen können.
Rossini bleibt sich selbst treu und bestätigt seinen Stil einmal mehr mit einem Meisterwerk, das in die archetypischen Strukturen des italienischen Belcanto fällt: Rossini bestätigt Rossini.
Verdis letzter großer Sprung
Nach 16 Jahren Opernstillstand seit »Aida« (1871) war Giuseppe Verdi 1887 bei der Premiere seines »Otello« 74 Jahre alt.
Giuseppe Verdi, Porträt von Giovanni Boldini, 1886
Verdi war damals bereits ein alter Mann und hatte mit Werken wie Simon Boccanegra, Don Carlo, Aida, Requiem bereits die volle stilistische Reife als Musiker erreicht.
Mit dieser Oper vollzog er einen letzten großen Sprung, der sich bereits in Aida angedeutet hatte: Er löste sich von der Idee geschlossener Strukturen, die seinen Stil und seinen Erfolg geprägt hatten, und ersetzte sie durch einen viel kontinuierlicheren musikalischen Fluss zwischen den verschiedenen Szenen, unter anderem durch einen anderen Einsatz des Orchesters, den viele damals für wagnerianisch hielten. Verdi hat die Arie nie aufgegeben, aber er hat auf das Rezitativ verzichtet. Stattdessen lässt er Raum für einen deklamatorischen Stil, der näher am gesprochenen Wort ist, ohne Pausen und näher an den Wendungen des Textes, die zusammen mit dem neuen hyperrealistischen Einsatz des Orchesterklangs (von der Stille bis zum Geschrei) einen neuen Verdi darstellen, der anders ist, aber gleichzeitig mit sich selbst übereinstimmt. Er tat dies auf der Suche nach dem wahren theatralischen Ausdruck, und zwar in einem solchen Maße, dass man Otello als die Oper bezeichnen könnte, die den Beginn des neuen Jahrhunderts einläutet: Verdi übertrifft Verdi.
Der Berührungspunkt: Desdemona
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wir es mit zwei Opern gleichen Namens zu tun haben, zwei Meisterwerke ihrer Art, die jedoch unterschiedlicher nicht sein könnten. Obwohl sie im selben Jahrhundert komponiert wurden, scheinen sie Lichtjahre voneinander entfernt zu sein: in der Art und Weise, wie sie die Stimmen einsetzen, in der Dramaturgie, im musikalischen Stil, in der Verwendung der Harmonie, in der Instrumentierung und der Auffassung von Theater, die sie vermitteln.
Dennoch habe ich beim Studieren und Dirigieren festgestellt, dass es einen großen (vielleicht den einzigen) Berührungspunkt zwischen den beiden Otellos gibt, und zwar in der Rolle der Desdemona.
In beiden Opern ist Desdemona ein lyrischer Sopran mit nicht unähnlichen, aber doch etwas anderen Stimmcharakteristiken, mit größerer Beweglichkeit bei Rossini im Vergleich zu Verdi, wo eine ausgeprägtere dramatische Seite gefragt ist. Sie können jedoch durchaus von ein und derselben Interpretin gesungen werden (in diesen beiden Inszenierungen an der Oper Frankfurt werden sie von der großartigen Nino Machaidze interpretiert!).
In beiden Opern ist der innigste Moment das Weidenlied, in dem überraschenderweise sowohl Rossini als auch Verdi einen archaischen Stil gewählt haben, um die Verwirrung, die Sehnsucht, die Einsamkeit und die Schwäche zu vermitteln, die Desdemona allein in ihrem Zimmer empfindet, bevor sie getötet wird.
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