Im Dezember 2021 kam Rimski-Korsakows Die Nacht vor Weihnachten in der Inszenierung von Christof Loy zur Frankfurter Erstaufführung. Die Oper zeichnet sich durch allerhand märchenhafte und fantastische Momente aus, in denen die Figuren durch die Lüfte fliegen. Für vier Darsteller*innen der Produktion bedeutete dies Schwerstarbeit: Keine*r von ihnen hatte bislang Flugerfahrung auf der Bühne. Unterstützt und angeleitet wurden sie während der Probenphase von Ran Arthur Braun, einem der renommiertesten Flugchoreografen Europas. Worauf es beim Fliegen ankommt, was die besonderen Herausforderungen sind und welche Momente Ran besonders stolz machen, erfahren Sie im folgenden Artikel.
DIE EIGENE ANGST ÜBERWINDEN
Schon als Kind war Ran Arthur Braun von fliegenden Figuren fasziniert: »Als kleiner Junge liebte ich Superhelden! Bis heute staune ich darüber, wie mühelos sie die Schwerkraft überwinden. In meiner Arbeit versuche ich eigentlich nur, mit den Mitteln des Theaters meinen früheren Idolen nahezukommen.« Nach einem Klavier- und Gesangsstudium bildete sich der gebürtige Israeli in zahlreichen Workshops zum »Action Designer« fort und war mittlerweile in über 300 Opernproduktionen für Flug-, Kampf- und Unterwasserchoreografien sowie Pyro-Effekte und Akrobatikeinlagen verantwortlich. »Durch meine eigene Bühnenerfahrung habe ich ein gutes Gespür dafür, wozu Sänger*innen fähig sind. Heutzutage gibt es da glücklicherweise kaum noch Grenzen. Opernsänger*innen sind moderne Superhelden!«
Aber auch für Superhelden ist aller Anfang schwer: Das erste, was Ran den Darsteller*innen bei den Flugproben vermittelt, ist Vertrauen. »Ohne Vertrauen kann man beim Fliegen keine Freiheit erlangen. Wenn man aber darauf vertraut, dass man frei ist, lernt man die eigene Angst zu akzeptieren und kann daran wachsen.« Um an diesen Punkt zu kommen, erläutert er den Beteiligten zunächst alle technischen Gegebenheiten und Sicherheitsvorkehrungen. Anschließend geht es auf der Probebühne mit Flügen in einem Meter Höhe los, wobei erste Tricks wie Saltos oder Drehungen ausprobiert werden. Es folgen Versuche in sieben Metern Höhe, ehe im Originalbühnenbild die finale Flughöhe von 13 Metern erreicht wird. Gorka Culebras, Tänzer in der Produktion, berichtet: »Das erste Mal so weit oben über dem Bühnenboden zu schweben, war unbeschreiblich. Während ich hochgezogen wurde, verschwand langsam der Zuschauerraum aus meinem Sichtfeld und ich hatte nur noch Scheinwerfer vor mir. Beim Blick nach unten wird einem kurz mulmig: Der Kopf sagt einem zwar, dass man angegurtet und sicher ist, aber der Körper braucht einen Moment, um das zu realisieren.«
Während des Fliegens wirken enorme Kräfte auf die Darsteller*innen. Insbesondere der Rücken, die Rumpfmuskulatur und die Beine müssen permanent arbeiten, um den Körper in der richtigen Balance zu halten. Und bei alldem muss zum Teil auch noch gesungen werden: »Das Singen selbst ist in der Luft gar nicht so schwer, wie man denkt. Dadurch, dass die Sänger*innen im Fluggeschirr fest verankert sind, verspüren sie einen Widerstand, den sie zum Produzieren von Tönen nutzen können. Schwieriger ist, dass die Darsteller*innen sich dabei durch verschiedene Dimensionen im Raum bewegen, teilweise kopfüber hängen und mit Partnern interagieren, die ebenfalls in der Luft unterwegs sind«, erläutert Ran.
Bei der Entwicklung der Flugchoreografien arbeitete er eng mit Regisseur Christof Loy zusammen. Rimski-Korsakows Oper bot dabei eine ideale Vorlage, weil viele Flugszenen bereits eingeschrieben sind: Zunächst reiten die Hexe Solocha (Enkelejda Shkoza) und der Teufel (Andrei Popov) auf dem Besen durch die Luft, dann fliegt Schmied Wakula (Georgy Vasiliev) auf dem Rücken des Teufels in die Hauptstadt, und schließlich findet auch die Rückkehr des Frühlingsgottes Owsen (Gorka Culebras) hoch oben in der Luft statt. »Christof hat mir bereits vor anderthalb Jahren seine szenischen Gedanken zu den Flugmomenten geschildert. Meine Aufgabe war es dann, diese Ideen in Vorgänge zu übersetzen, die für das technische Team der Oper Frankfurt und die Darsteller*innen realisierbar sind.« Ran fertigte Skizzen und Animationen an, welche die Grundlage für seine Arbeit bildeten. In mehrstündigen Flugproben feilte er mit allen Beteiligten an den Abläufen.
TEAMWORK
Damit auf der Bühne alles glatt und sicher abläuft, ist Teamwork erforderlich: Eine einminütige Flugsequenz setzt sich aus etwa 20 kleinen Bewegungs-Bausteinen zusammen. Jeder einzelne davon muss zunächst im Flugwerk programmiert und später im richtigen Moment gestartet werden ̶ natürlich passend zur Musik. Dafür bedarf es einer engen Zusammenarbeit zwischen der Inspizientin Anskje Matthiesen, die die Einsätze gibt, und den Operateuren im Stellwerk. Für die Sicherheit der Darsteller*innen sorgen dabei zwei Bühnenmeister, die vor jedem Flug das Fluggeschirr anlegen und kontrollieren.
»Bei all den technischen Herausforderungen geht es am Ende natürlich darum, Kunst zu machen. Die Darsteller*innen müssen ausblenden können, was um sie herum passiert, um sich ganz auf ihr Spiel zu konzentrieren«, so Ran Arthur Braun. In der Frankfurter Produktion hat das offensichtlich gut funktioniert, wie Gorka Culebras schildert: »Nach vielen Proben mit dem gesamten Team konnte ich während des Fliegens ganz in die Geschichte eintauchen. Als Frühlingsgott Owsen schwebe ich gewissermaßen vom Luftraum auf die Erde und durchlebe währenddessen verschiedene emotionale Stadien: Ich werde wie ein kleines Kind ins Leben geworfen, fühle mich verunsichert, finde dann aber immer mehr zu mir selbst und meiner Kraft bis ich schließlich mit der Jungfrau Koljada zusammenkomme. Und das alles passt ganz wunderbar zu Rimski-Korsakows Musik.«
Wenn die Ensemblemitglieder in der Luft völlig in ihrer Rolle aufgehen, empfindet Ran Arthur Braun einen gewissen Stolz. »Ich freue mich immer, wenn die Darsteller*innen gar nicht mehr merken, dass sie fliegen und sich frei ausdrücken können. Zu sehen, wie sie beim Fliegen aufblühen, ist sehr erfüllend und macht die vielen Anstrengungen der Probenarbeit vergessen. Und am allerschönsten ist es, wenn das Publikum bei den Vorstellungen genauso ins Staunen gerät wie ich selbst.«
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Die Vorstellungen der Nacht vor Weihnachten laufen noch bis zum 8. Januar.
Text: Maximilian Enderle
Szenenfotos: Monika Rittershaus
Probenfotos: Ran Arthur Braun, Robin Passon
21. Dezember 2021