Lorenzo Viotti:
Die Klischeevorstellungen lassen mich unberührt. Ich sehe in Massensets Werk ein spannendes Drama, durch das wir in die Tiefe der menschlichen Seele blicken können. Die Fragen, die dieses Werk anspricht, sind von großer Aktualität. Wie gehen wir mit dem Thema Freitod um? Oder wie können wir denjenigen helfen, die gefährdet sind? Nicht weniger aktuell und facettenreich sind die zwischenmenschlichen Beziehungen: Wie liebt eine junge Frau (Charlotte), die für ihre Familie die Rolle der verstorbenen Mutter und damit auch deren gesellschaftliche Verpflichtungen übernehmen muss? Es gibt in diesem Stück viele Fragen, die sich nicht nur in Zusammenhang von Charlotte und Werther sondern auch rund um die Beziehungen zwischen Sophie und Albert oder Werther und Sophie stellen. Ein sehr komplexes, spannendes Netz von verschiedenen »Wahlverwandtschaften« und Möglichkeiten. Es geht um großes menschliches Drama. Für die Sängerinnen und Sänger bedeutet es eine besondere Herausforderung, weil es hier um eine großartige Form von musikalischen Konversationen, im Grunde genommen um ein Schauspiel mit Musik geht. Und der Titelheld? Eine schöne Traurigkeit umwebt ihn: Er kann seine Ruhe, sein Glück nur im Tod finden.